Diagnose Krebs: Können Worte töten?
Th. Ahlert, J. Beier
Zusammenfassung:
Der Artikel schildert die Situation von KrebspatientInnen im medizinischen, sozialen und familiären Umfeld vom Zeitpunkt der Diagnoseeröffnung an. Es werden verschiedene Wege zum Schutz der PatientInnen vor unheilsamen äußeren Einflüssen beschrieben. Dabei werden Konditionierungs- und Dekonditionierungsmechanismen detailliert beschrieben. Die Achtsamkeitsmeditation (Vipassana) wird ausführlich als Möglichkeit dargestellt, wie PatientInnen sich prinzipiell und selbständig gegen schädliche Einwirkungen schützen können.
1. Einleitung
Mit ängstlich-erwartungsvollen Blicken sitzt der Patient dem Arzt gegenüber. Er sieht krank, angespannt und müde zugleich aus, als ob er nächtelang nicht geschlafen hätte. Er ahnt, dass er Krebs hat. Was wird kommen? Qual? Siechtum? Pflege bis zum Tod? Der Arzt ist sichtlich bemüht, nach den richtigen Worten zu suchen, findet sie aber nicht. Er will helfen, so gut er kann, braucht dazu aber die Mitarbeit des Patienten. Er hofft, dies mit der "Wahrheit", so wie er sie sieht, am besten zu erreichen:
„Dass Ihr Tumor bösartig ist, also ein Krebsgeschwür, steht jetzt endgültig fest. Nachdem wir nun alle Untersuchungen abgeschlossen haben, muss ich ihnen leider mitteilen, dass die Krankheit schon recht weit vorangeschritten ist, so dass wir sie kaum mehr heilen können. Wir müssen nun Ihren Bauch aufschneiden und herausholen, was möglich ist. Danach wird eine aggressive Chemotherapie, eine Strahlentherapie und Ihre Kastration nötig sein. Diese sind dringend erforderlich, sie werden sonst sehr bald sterben.“ Der Patient wird nach diesen Worten kreidebleich, bricht zusammen, wird bewußtlos und stirbt an einem Herzanfall.
Diese Begebenheit ist zwar gestellt und beschreibt einen - wenn auch nicht unrealistischen - Extremfall. In der Wirklichkeit ereignen sich ähnliche Ereignisse weniger spektakulär, aber durchaus häufig. Eher selten sterben die Patienten dabei sofort wie hier, noch während des Gespräches. Es stirbt meist zuerst der Lebenswille und die Hoffnung, und nach einem mehr oder weniger kurzen Leidensweg der Körper des Patienten. Es hilft auch nichts, wenn der Arzt, nachdem er die Wirkung seiner Worte bemerkt hat, versucht, diese abzuschwächen oder zu revidieren. Ihm wird nicht mehr geglaubt. Es entsteht ein Vertrauensverlust des Patienten bis hin zu der Auffassung, dass er als Arzt nicht kompetent ist.
Dabei, was sind die nüchternen Fakten?
Krebs ist tatsächlich häufig eine Krankheit, die unheilbar ist. Diese Krankheit reiht sich damit in die Gruppe der chronischen Erkrankungen ein, zu denen auch Rheuma, Demenz, Arteriosklerose und Diabetes Mellitus u.a. gehören. In der Statistik der Todesursachen wird für 25% der Todesfälle Krebs als mittelbare oder unmittelbare Todesursache angegeben. Aber über 60% der Todesfälle ereignen sich aufgrund von Erkrankungen des Herzens, der Blutgefäße oder des Kreislaufes.
Warum wird bei Krebs bereits die Diagnose gleichgesetzt mit baldigem Verfall und Tod, nicht aber bei Angina Pectoris, bei einem überstandenen Herzinfarkt oder einem Schlaganfall? Die Krankheit Krebs kann es nicht sein. Zu oft werden Krebspatienten mit ihrer Krankheit alt und sterben an anderen Gebrechen. Es gibt allerdings dramatische Verläufe mit schnellem Fortschreiten, das durch keine medizinische Maßnahme aufzuhalten ist. Aber solche Verläufe sind eher die Ausnahme als die Regel. Es sind jedoch speziell diese dramatischen Entwicklungen, die in der Bevölkerung wahrgenommen werden, während die langsamen, milderen kaum bemerkt werden. Zahlreiche gesund erscheinende Menschen hatten in ihrer Vergangenheit einmal Krebs gehabt, ohne dass das in der Umgebung bekannt oder bewußt ist. Manchmal ist es dem Patienten selbst nicht mehr präsent.
Allerdings kommen zu den dramatischen Verläufen noch die Fälle hinzu, die unter der Krebstherapie (namentlich Chemotherapie oder Strahlentherapie, seltener Operationen) einen Verfall erfahren, der z.T. von den Wirkungen der Krankheit kaum zu unterscheiden ist. Sind diese aggressiven Therapien dann auch noch ohne heilende Wirkung, was leider eher die Regel als die Ausnahme ist, wirken Krankheit und Therapie in die gleiche Richtung einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Patienten und verstärken sich in ihrer Fatalität gegenseitig.
Wir wollen in diesem Beitrag die seelisch - psychologische Problematik dieser Situation konsequent beleuchten. Dabei soll sowohl die Sicht der Umwelt als auch die des Patienten berücksichtigt werden. Wir werden zeigen, dass beide die Schwierigkeiten der Kommunikation bei Krebs handhaben können. Dazu werden wir allgemeine Erkenntnisse aus der Psychologie und Psychotherapie heranziehen. Darüber hinaus werden wir hilfreiche Therapiemethoden vorstellen.
2. Die psychosoziale Situation
Es sind vor allem die Patienten mit einem schnell fortschreitenden oder / und mit einem akut aggressiv behandelten Krebsleiden, die der Umwelt eindrucksvoll Krankheit, Siechtum und Verfall demonstrieren und letztlich die Auffassung prägen, dass Krebs gleichzusetzen ist mit dem Tod.
Wird nun dem Patienten die Diagnose „Krebs“ verkündet, so findet er sich häufig - zusätzlich zu dem eigenen Vorurteil seiner Krankheit gegenüber - in einer problematischen psychosozialen Situation in Familie, Freundes- und Bekanntenkreis wieder: Hier gilt er eben nicht selten von Anfang an als verloren. Die wohlgemeinten Versuche, diese Auffassung zu verbergen, verschlimmern alles nur, weil der Betroffene selbstverständlich sensibel genug ist, solche Gedanken bei seinen nächsten Mitmenschen wahrzunehmen, auch wenn sie nicht ausgesprochen werden. So bleibt ihm nicht selten die unausgesprochene Rolle des vermeintlich „Todgeweihten“ für seine letzten Tage, Wochen, Jahre, - und im schlimmsten Fall eben auch Jahrzehnte. Arbeitsunfähigkeit, therapieinduzierte oder erkrankungsbedingte Gebrechen, häufige Arztbesuche, das alles bestätigt diese undankbare Rolle des „Todgeweihten“ gegenüber der Umwelt und dem Patienten selbst. Kaum jemand ist in dieser Situation stark genug, sich aus eigenen Kräften aus einer solchen Rolle zu befreien.
Eine kurzfristige Verbesserung mag die Nachricht der Ärzte erbringen, dass z.B. eine anstrengende Therapie „abgeschlossen“ ist und die Krankheit nach medizinischem Ermessen ausreichend behandelt wurde. Nicht selten aber haben die Patienten das Gefühl, dass diese Nachricht lediglich bedeutet, dass die Ärzte jetzt auch nicht mehr weiter wissen. Immerhin erholt sich der Patient in der Folgezeit von den schweren Nebenwirkungen der Therapien, was ihm Grund zur Hoffnung gibt, die Krankheit tatsächlich überwunden zu haben.
Ein Wiederauftreten des Tumors wirkt sich um so niederschmetternder auf die psychische Verfassung des Patienten aus, je mehr er von Ärzten und zum Teil von sich selbst die Vorstellung einer Heilung suggeriert bekam. Der Arzt wird jetzt eventuell etwas Neues wissen, das wieder Hoffnung auf Heilung verleiht. Diese wird in der Regel über kurz oder lang auch wieder enttäuscht, und so weiter.
So ist der Patient nicht selten einem Wechselbad der Gefühle von Hoffnung und Enttäuschung unterworfen, die bei ihm und seinen Angehörigen das Bild des „Todeskandidaten“ verstärken und festigen. Es bleibt irgendwann nur noch die Frage: „Wie lange noch?“ Allwissende Ärzte werden auch hierauf eine Antwort wissen – und sich auch hier nicht selten vollkommen vertun.
3. Wie wirken Worte ?
Die oben beschriebene psychische Situation von Krebspatienten macht deutlich, dass es in der Regel das Zusammenwirken der Laienvorstellungen zu Krebs, der tatsächlichen krankheits- und therapiebedingten Leiden sowie des Einflusses der Ärzte ist, das den Patienten zu einem Zeitpunkt schwer beeinträchtigen kann, an dem er noch quicklebendig ist und an das Sterben nicht mehr und nicht weniger denken müsste als ein Patient mit Angina Pectoris, nach Herzinfarkt, mit Lungenentzündung, unter Dialyse, mit Rheuma oder Demenz.
Dabei können ganz besonders beim Krebspatienten die falschen Worte oder Gesten die Probleme mit der Krankheit unnötig verschlimmern. Mitfühlend gemeinte ärztliche Aussagen wie „Sie werden die Therapie nicht ohne Psychopharmaka überstehen“ oder „Sie ziehen das Unglück aber auch an!“, Worte wie „nicht heilbar“, „weit fortgeschritten“, „sterben“ und „Tod“ können in der speziellen Situation des Krebspatienten eine sich selbst erfüllende Prophezeiung bedeuten.
Der Grund liegt darin, dass der Krankheitsverlauf von der psychischen Disposition des Patienten abhängig ist. Es ist insbesondere das Verdienst von Grossarth-Maticek (Literaturangaben 1 – 3), dass der Einfluss seelischer Komponenten auf den Verlauf der Krebserkrankung quantifizierbar geworden ist. Nach großen epidemiologischen Studien mit tausenden Patienten und gesunden Probanden über mehr als 20 Jahre fanden Grossarth-Maticek und Kollegen, dass psychische Faktoren das Krebsrisiko etwa genauso stark beeinflussen wie körperliche (inklusive genetische) Risikofaktoren: Menschen mit günstigem psychischem Profil bekommen seltener Krebs als Patienten mit ungünstigem psychischen Profil. Erkranken sie dennoch, so ist ihre Überlebenszeit länger als bei Patienten mit ungünstigem psychischem Profil. Hier mag ein Zusammenhang mit einer größeren körperlichen Aktivität bei günstigem psychischem Profil gegeben sein: es ist bekannt, dass sportliche Aktivität wie keine andere Einzelmaßnahme Rezidiven vorbeugt und die Überlebenszeit verlängert.
Grossarth-Maticek und Kollegen zeigten, dass die Krebserkrankung insbesondere von folgenden psychosozialen Faktoren in ihrem Verlauf beeinflusst wird:
- Depressive Verstimmungen allgemein (reaktiv oder endogen)
- Angst
- Das Gefühl einer unüberwindbaren Beeinflussung bzw. Einengung des Denkens und Handelns des Betroffenen von außen („Ich lebe nicht, sondern ich werde gelebt. Andere bestimmen mein Leben. Mein Leben ist von außen manipuliert.“)
- Verlusterlebnisse / Frustrationen jeglicher Art
- Mangelnder Halt, mangelnde Geborgenheit und mangelnde Bestätigung im sozialen Umfeld, inklusive der Arzt-Patient-Beziehung. („Mein Leben ist bedeutungslos für meine Mitmenschen. Ich bin eher eine Belastung als ein Gewinn für meine Mitmenschen.“)
- Die Unterdrückung eigener Impulse, Wünsche, Bedürfnisse und Auffassungen zugunsten der Harmonie mit der Umwelt. („Um des lieben Friedens willen halte ich mich zurück und gebe nach.“)
Diese Risikofaktoren sind in vielen Lebenssituationen der Krebskranken wirksam und sind somit für den Krankheitsverlauf relevant. Hier einige konkrete Beispiele:
- Enttäuschte Hoffnungen auf Heilung (vom Patienten selbst, von Ärzten und oder von anderen Vertrauenspersonen geweckt)
- Verlust von Arbeitsfähigkeit, Arbeitsplatz, Stellung im sozialen Umfeld wegen der Behinderung durch die Erkrankung
- Wechselnde oder fehlende (ärztliche) Bezugspersonen, unsichere und von Vertrauenskrisen gezeichnete Arzt-Patientenbeziehungen
- Tod eines geliebten Mitmenschen, ganz besonders wenn Krebs die Ursache war
- Nicht gewollte Scheidungen und andere Trennungen von geliebten Mitmenschen
- Das Gefühl, „nutzlos“, „überflüssig“ oder gar „unerwünscht“ bzw. „schädlich“ und „belastend“ zu sein. Damit verbunden: Verlust des Selbstwertgefühls bis hin zur Verachtung und Ablehnung seiner selbst
- Angst (z.B. vor dem Sterben, der Hilflosigkeit oder vor Therapienebenwirkungen)
Stellt man sich nun die Ausgangsfrage dieses Beitrags „Können Worte töten?“ und beachtet diese psychosozialen Risiken, so kommt man zu folgender Antwort:
Worte und Taten der Angehörige, Freunde, Ärzte und Therapeuten, die diese Risiken verstärken oder begünstigen, können das Leben des Patienten verkürzen.
4. Können tödliche Worte vermieden oder neutralisiert werden?
Es soll nun an dieser Stelle systematisch darüber nachgedacht werden, wie man zu einer Lösung dieser Problematik kommen kann.
Was wäre das Idealziel? Die Antwort ist einfach, nämlich dass der Patient dauerhaft in vollkommener Harmonie mit sich selbst und mit seiner Umwelt lebt.
Welche Wege führen in Richtung dieses Zieles? Der Patient und sein soziales Umfeld sind in der Regel zu unerfahren sowie zu stark subjektiv vorbelastet, um hier - auf sich selbst gestellt - Erfolg zu haben.. Nur ein erfahrener Therapeut kann dabei effektiv aufklären, Hilfe leisten und Anpassungen äußerer und innerer Faktoren hin zu größerer Harmonie und vermehrtem Glück für den Patienten erarbeiten oder aufzeigen. Dabei muss der jeweilige Problemkomplex zunächst sehr sorgfältig analysiert und eingekreist werden, um dann spezielle Lösungen unter realistischer Abschätzung ihrer Erfolgsaussichten zu entwickeln.
In jeder realen Situation ist eine Wechselwirkung von inneren und äußeren Faktoren gegeben. Der Deutlichkeit halber werden im Folgenden die beiden prinzipiellen Wege diskutiert, die sich aus dem Anspruch ergeben, Patient und Umwelt in Harmonie miteinander zu bringen:
- die Anpassung der Umwelt an die Bedürfnisse (Wünsche, Begierden, Eigenschaften und Vorstellungen) des Patienten
- die Anpassung des Patienten an nicht veränderbare Umweltbedingungen
4.1 Anpassung der Umwelt
Die erste dieser beiden Möglichkeiten scheint zunächst die einfachere und offensichtlichere zu sein. Äußere Lebensumstände, beeinträchtigende Verhaltensweisen und Worte der Mitmenschen und bestimmte Beziehungen zwischen Patienten und Mitmenschen lassen sich durchaus bis zu einem bestimmten Grad an die Bedürfnisse des Patienten anpassen.
So einleuchtend sich dieser Weg darstellt, so kompliziert, unvollständig, ja unmöglich kann er im Einzelfall zu realisieren sein. Man wird schnell feststellen, dass es unmöglich ist, den Patienten „in Watte zu packen“ und nachhaltig vor den genannten Risiken zu schützen: Zu schwerwiegend, zu etabliert und zu unberechenbar sind die meisten dieser Gefahren für die seelische Gesundheit und Abwehrkraft des Patienten.
Da also eine dauerhafte und ausreichende Anpassung der Umwelt an die Bedürfnisse des Betroffenen nicht umsetzbar ist, ist dieser Weg auch mit dem besten Therapeuten zum Scheitern verurteilt. Dazu kommt eine aus der Suchtpsychologie bekannte Gefahr: Gelingt es nämlich tatsächlich, ein wie auch immer geartetes Bedürfnis des Patienten zu stillen, so kann es allein dadurch zu einer Verstärkung des jeweiligen Bedürfnisses kommen, so dass es letztlich unstillbar wird („je mehr er hat, je mehr er will“).
4.2 Anpassung des Patienten
In den Fällen, in denen es nicht gelingt, ausreichende äußere Veränderungen zu erreichen, bleibt die zweite der genannten Möglichkeiten zum Risikoabbau: die Anpassung des Patienten an die äußeren Gegebenheiten. Dies scheint zunächst der wesentlich schwierigere Weg zu sein, da er eine mehr oder weniger tiefgreifende innere Wandlung des Patienten selbst fordert. Indem jedoch die Mitarbeit des Patienten entscheidend wird, verlagert sich die Kontrolle über Erfolg oder Misserfolg der Bemühungen auf die Person des Patienten. Das hat für den Patienten den Vorteil, dass er im Extremfall vollkommen unabhängig von externen und damit von ihm nicht kontrollierbaren Einflüssen wird.
Der Nachteil liegt in der ungünstigen Ausgangslage von Krebskranken in Bezug auf die ihnen verfügbaren Ressourcen, Energien und Kräfte für diese Ansätze. In der Praxis stößt man dabei auf folgende Probleme:
- Der Patient weiß über sich selbst und seine im Unbewußten liegenden Gefahren und Verstrickungen so gut wie nichts.
- Oft sieht er nicht einmal auf intellektueller Ebene ein, dass es notwendig ist, sich um die Zusammenhänge zwischen seinen psychischen Eigenschaften und seinem Leid zu beschäftigen. Dieses Wissen wäre ein entscheidender Motivationsfaktor für Aktivitäten zur Verbesserung der Lage.
- Auch wenn er einsichtig ist, kann der Patient an dem Sinn und der Erfolgsträchtigkeit der speziell verwendeten Behandlungsmethode so stark zweifeln, dass er nicht vorankommt.
- Der Patient hat in der Regel nicht die Kraft und Ruhe, sich mit sich selbst zu beschäftigen, um diese Gefahren und Verstrickungen zu erkennen und zu bewältigen.
- Der Patient lebt meist in einer Umgebung, die die Beschäftigung mit sich selbst nicht fördert, sondern eher behindert.
- Der Patient ist oft - insbesondere als älterer Mensch - geistig kaum flexibel. Zu stark eingefleischt sind Bedürfnisse, Aversionen, Selbstakzeptanz oder Selbstignoranz.
Trotz aller dieser Probleme kann es sein, dass der Patient (mit Hilfe seiner Mitmenschen inklusive Psychologen und Ärzten) im Angesicht des Todes diesen steinigen Weg der Anpassung beschreiten muss. Wir wollen im Folgenden aufzeigen, welche Möglichkeiten hierfür zur Verfügung stehen. Vor allem gilt es, die Natur von fest verwurzelten Verhaltensweisen näher zu betrachten.
5. Psychotherapien
Psychotherapien haben das Ziel, mit geistig - seelischen Mitteln Verhaltensanomalien und seelisches Leiden zu verringern.
Der Weg, der in der Psychoanalyse, der analytischen und tiefenpsychologischen Psychotherapie beschritten wird, beeinhaltet, durch Bewusstmachung und Reflexion vergangene Erfahrungen aufzuarbeiten. Zu diesem Zweck wird der Zugang zum Unbewussten des Patienten gesucht, um die dort gespeicherten Gedächtnisinhalte hervorzuholen und Verstrickungen und Verflechtungen von Ängsten, Hoffnungen, Wut, Lust und Ärger aufzudecken. Dies geschieht unter anderem über das Beobachten und Deuten von Träumen und das affektiv-emotionale Durcharbeiten der entstehenden Beziehung von Therapeut und Patient. Das Hauptanliegen ist dabei nicht, von vorneherein zukünftige Verstrickungen zu vermeiden, sondern in Konfliktfällen zu wissen, „wo es herkommt“ und anders reagieren zu können.
Je nach Art der hier gewählten Methode kann die Therapie sehr zeitaufwändig sein, da das ganze Seelengefüge im Einzelnen betrachtet wird. Bei Krebskranken scheint die Fachwelt sich zudem über die speziellen Risiken einer analytischen Therapie noch nicht einig zu sein.
In Gesprächstherapien wird der Patient veranlasst, seine Probleme mit sich und der Umwelt im Gespräch mit dem Therapeuten zu analysieren. Hier wird nicht notwendigerweise explizit mit dem Unterbewussten gearbeitet. Eine Form der Gesprächstherapie ist das von Grossarth-Maticek und Kollegen speziell für Krebspatienten entwickelte Autonomietraining: Problemkreise werden identifiziert und mit etwas Anstrengung („Training“) seitens des Patienten gelingt es oft, das eigene Leben zumindest innerlich autonom zu gestalten.
Das einfachste und am schnellsten erste Erfolge zeitigende Verfahren ist die Verhaltensanpassung über eine Verhaltenstherapie. Sie geht davon aus, dass Verhalten – auch schädliches Fehlverhalten – erlernt und somit auch wieder verlernbar ist. Hier muss der Patient seine psychische Struktur nicht wesentlich einbeziehen, sondern nur bestimmte Verhaltensweisen, die für Disharmonie prädestinierend sind. Die Störungen werden in der erweiterten Variante auch auf der Basis von Lerntheorien behandelt, z.B. mit Hilfe der im nächsten Abschnitt beschriebenen Technik der Dekonditionierung, die fest verwurzelte Verhaltens- oder Reaktionsweisen aufzulösen vermag.
6. Dekonditionierung und Vipassana - Meditation
Eine Methode, die die oben genannten Elemente der einzelnen Therapieformen kombiniert – Wirkung bis in das Unterbewusstsein hinein, Betonung der Autonomie des Patienten und Verwendung einer effizienten Technik zur Verhaltensänderung und Vermeidung zukünftiger Verstrickungen - stellt die Vipassana – Meditation dar.
Wir möchten im Folgenden die Vipassana – Meditation vorstellen und dazu vorab die für ihr Verständnis hilfreichen Konzepte der Konditionierung bzw. Dekonditionierung erläutern und deren physiologischen Hintergrund klären.
6.1 Konditionierung und Dekonditionierung
Unter Konditionierung versteht man in der Psychologie das Erlernen von Reiz – Reaktions – Mustern: auf einen bestimmten Reiz erfolgt im Körper eine bestimmte Reaktion. Man unterscheidet zwei Typen der Konditionierung:
Die klassische Form des Lernens via Konditionierung wurde von I. Pawlow beschrieben. Er beobachtete, dass Versuchshunde nach einer Lernphase, in der ein Glockenton direkt bei der Fütterung ertönte, bereits nach dem alleinigen Glockenton Speichel absonderten, auch wenn sie das Futter (noch) nicht sehen konnten. Er deutete diese Beobachtung so, dass durch das wiederholte zeitlich unmittelbar aufeinanderfolgende Erscheinen des Glockentons (neutraler Reiz) und des Futters (unkonditionierter Reiz mit reflexartiger Reaktion) eine Verbindung zwischen beiden hergestellt wurde. Der vorher neutrale Reiz wurde dadurch zu einem konditionierten Reiz. Die konditionierte Reaktion (Speichelproduktion) wird nun sowohl durch den konditionierten Reiz (Glockenton) als auch durch den unkonditionierten Reiz (Futter) ausgelöst.
Auch das Erlernen von komplexeren Reaktionsweisen als den oben beschriebenen wird als Konditionierung bezeichnet („operante Konditionierung“). Damit der Konditionierungsmechanismus überhaupt einen Ansatzpunkt hat und greifen kann, müssen Bedürfnisspannungen (Begierden oder Aversionen) und angeborene unbedingte Reflexe vorhanden sein, die bei der Konditionierung angesprochen und befriedigt werden. Mit Hilfe sogenannter Verstärker (positive Verstärkung oder Bestrafung) wird bei der Konditionierung dafür gesorgt, dass bestimmte Reaktionen und Verhaltensweisen begünstigt oder erschwert werden. Was sich als Verstärker eignet, hängt von der Person ab, bei der die Verhaltensweise verstärkt werden soll (z.B. Angst vor Schmerzen; Glücksversprechen).
Abläufe im Gehirn bei der Konditionierung:
Die Neuroendokrinologie beschreibt, welche biochemischen Prozesse bei der Konditionierung ablaufen: die Befriedigung der Bedürfnisspannung führt über eine vorübergehende Hormonausschüttung zu Veränderungen an Nervenzellen: wenn ein Axon A wiederholt oder ständig an eine Zelle B gefeuert hat, so erfolgen Veränderungen in beiden Zellen (Axon A kann wachsen, Zelle B kann mehr Dendriten und Synapsen entwickeln, oder in beiden kann eine chemische Veränderung stattfinden). Die Fähigkeit der Zelle A, die Zelle B zu erregen, steigt. Wenn also ein Axon einmal an eine Zelle gefeuert hat, wird es in Zukunft diese Zelle noch besser stimulieren können – der Reflex ist fixiert. Wenn gleichzeitig mit A auch noch C an B feuert, könnte durch die Kombination sogar ein Aktionspotential ausgelöst werden.
Auf der Empfindungsebene beschrieben, entspricht die Hormonausschüttung einem angenehmen und daher „suchterzeugenden“ Erleben. Die Veränderungen an den Nervenzellen entsprechen einem (unbewussten) Gedächtnis und verstärken das konditionierte Verhalten durch die wiederholt hervorgerufene Empfindungsinduktion. Es bildet sich eine reflektorische, unbewusste Reaktions- und Empfindungsweise, die sich dem freien Willen der konditionierten Person entzieht.
Durch fortschreitende Erfahrung mit immer gleichen Reizen können nun zwei Effekte auftreten, die die konditionierten Reaktionen abschwächen oder verstärken: „Habituation“ (Gewöhnung = Abnahme der Reaktion auf einen Stimulus, der wiederholt dargeboten wird und von keiner Veränderung von anderen Stimuli begleitet wird) oder „Sensitisation“ (nach einem starken Stimulus reagiert ein Organismus auf einen nachfolgenden schwächeren Stimulus stärker, wird gleichsam „überempfindlich“).
Durch Untersuchungen an den Neuronen von Seeschnecken (Aplysia) wurde herausgefunden, dass Habituation eine Abnahme der Transmitterausschüttung der präsynaptischen Zelle bedeutet. Bei der Sensitisation handelt es sich um eine Zunahme der Transmitterausschüttung: durch den starken Reiz erfolgt eine Serotoninausschüttung in den synaptischen Spalt, wodurch die Aktionspotentiale und Transmitterausschüttungen zeitlich ausgeweitet werden. Es wird quasi verhindert, dass eine Nervenzelle aufhört zu feuern.
Auch die Objekte der Konditionierung - die Bedürfnisspannungen (Wünsche oder Aversionen) selbst - sind keine absoluten Konstanten, sondern können wiederum durch Lernvorgänge gebahnt („konditioniert“) und überhöht oder abgeschwächt werden. Beispielsweise können selbst angeborene Bedürfnisse wie Hunger und Durst starken Veränderungen und Anpassungen durch unbewusste Prozesse unterworfen werden. Auch diese Prozesse kann man mit den Konzepten der Sensitisation und Habituation beschreiben.
Beispiele:
Einige Beispiele mögen die obigen theoretischen Erläuterungen veranschaulichen:
Sensitisation bei Aversion:
- auslösender Reiz (ich sehe eine Wespe und höre ihr Summen)df
- weckt Aversion (ich mag diese Wespe nicht besonders, ich hab gehört, Wespen können stechen)
- Realisierung (die Wespe sticht, es tut ziemlich weh)
- Hormonausschüttung (Stresshormone wie Adrenalin werden ausgeschüttet, ich bekomme Angst, mein Blutdruck steigt, ich schlage die Wespe panisch von mir ab und fliehe)
- Beendigung der Hormonausschüttung (die Wespe ist weg, der Schmerz lässt nach)
- Konditionierung ist entstanden (hier Aversion: ich muss in Zukunft aufpassen, Wespen sind äußerst unangenehme und gefährliche Tiere)
- konditionierter Reiz (ich höre das Summen einer Wespe)
- konditionierte Reaktion (ich bekomme Angst, mein Blutdruck steigt, auch ohne dass die Wespe sticht)
Sensitisation bei Begierde:
- auslösender Reiz (z.B. Werbung im Fernsehen für ABC-Vanilleeis)
- weckt Begierde (oh, ein Vanilleeis wäre lecker! Es schmeckt nicht nur, ich werde - genau wie in der Werbung - damit auch ein glücklicher Mensch, werde Spaß haben!)
- Realisierung (ich kaufe mir das Vanilleeis und esse es)
- Hormonausschüttung (Endorphinausschüttung: ah, das schmeckt aber gut, ich fühle mich wohl)
- Beendigung der Hormonausschüttung (oh das Vanilleeis ist alle; wie schade, jetzt ist der Spaß vorbei)
- Konditionierung ist entstanden (hier Begierde: das muss ich mir merken, bei der nächsten Gelegenheit schlage ich wieder zu)
- abgeschwächter konditionierter Reiz (ich sehe im Supermarkt die Eispackung ohne Werbefilm)
- gleich starke konditionierte Reaktion aufgrund Sensitisation (oh ja, ein ABC-Vanilleeis, das wäre jetzt das Richtige, das hat mir schon damals so gut geschmeckt)
Unser Leben besteht zu einem viel größeren Teil aus reflektorischen, konditionierten Handlungen, als wir uns normaler Weise klar machen. Reflexe haben gegenüber bedachten und bewußten Handlungen den großen Vorteil, dass sie unser Gehirn entlasten und mit sehr geringer Vorlaufzeit und sehr zügig ablaufen (schnelle Flucht vor der Wespe; zeitsparendes Zugreifen im Supermarkt). Sie haben aber den Nachteil, dass sie kaum einen Spielraum für Anpassungen an die aktuelle Situation lassen. Dies ist besonders dann problematisch, wenn Reflexe auch unser Seelenleben bestimmen. Es gibt nämlich - im Gegensatz zu Handlungen, die körperliches Überleben sichern – keinen vernünftigen Grund, warum auch das Seelenleben in unbewußten Reflexen und konditionierten Zwängen eingemauert werden sollte.
Dekonditionierung:
Aus den obigen Abschnitten geht hervor, dass Konditionierungen modulierbar sind. Werden sie rückgängig gemacht, spricht man von Dekonditionierung (Extinktion): ein erlerntes Verhalten (psychisches oder physisches Reaktionsmuster) kann verlernt werden, wenn der konditionierte Reiz wiederholt ohne den ursprünglich notwendigen unbedingten Reiz dargeboten wird.
Am Beispiel des Hundes würde dies heißen, dass das Glockensignal wiederholt ohne Futtergabe ertönt. Nach einigen Wiederholungen bleibt der Speichelfluss aus. Ebenso kann eine bedingte Aversion abgebaut werden, wenn auf den konditionierten Reiz wiederholt keine unangenehme Erfahrung folgt.
Allgemein gesprochen, kann der Kreislauf der Konditionierungen durchbrochen werden, wenn die kurze Glücks- oder Aversionsempfindung bzw. die verursachende Hormonausschüttung, die den Reflex verstärken, vermieden werden.
In der medikamentösen Therapie psychischer Probleme ist diese Vermeidung kurzfristig durch Psychopharmaka, z.B. Beruhigungsmittel wie Diazepam (Valium) erreichbar. Die pharmazeutische Wirkung lässt allerdings mit der Zeit nach, so dass allmählich höhere Dosierungen für gleiche Effekte eingesetzt werden müssen. Der pharmakologische Weg verspricht daher nur eine kurzfristige Lösung bei akuten Krisen. Es mag sein, dass beim Patienten zunächst einige Konditionierungen aufgehoben oder abschwächt werden. Er ist aber nach Abklingen der Medikamentenwirkung noch mehr gefährdet, weil bei gleichen Reizen stärkere Hormonausschüttungen erfolgen als vor der Medikamentengabe und damit Konditionierungen beschleunigt wieder auftreten können.
Eine effektivere Methode der Dekonditionierung hat die in Kapitel 4 erwähnte Verhaltenstherapie entwickelt. Eine spezielle Form der Verhaltenstherapie, die Konfrontationstherapie, benutzt dabei das oben besprochene Phänomen der Habituation. Die Methode basiert darauf, dass der Patient ruhig, gleichmütig und entspannt bleibt, während sich der konditionierte Reiz dargeboten wird (das Summen der Wespe wird z.B. im Rahmen einer entspannten Atmosphäre so lange angehört, bis es keine Angstreaktion mehr auslöst). Gleichmut und Entspannung ist mit einer natürlichen Reduktion von Hormonausschüttungen verbunden und erreichen einen ähnlichen Effekt wie die oben erwähnten Medikamente ohne deren schädliche Nebenwirkungen. Diese Methode wird insbesondere bei therapiebedürftigen konditionierten Aversionen und Angstreflexen eingesetzt. Sie führt z.B. zu einem 80-prozentigem Heilungserfolg bei Patienten mit starker Zahnarztangst (Dentalphobie). Sie kann aber auch bei starken Begierden und Wünschen erfolgreich sein.
In diesem Rahmen müssen auch Methoden wie das Autogene Training und bestimmte Visualisierungstechniken erwähnt werden, die die körperliche und geistige Entspannung mit mentalen Inhalten koppeln.
Diese Techniken fokussieren sich auf die Bearbeitung eines oder weniger Hauptprobleme und haben nicht die Absicht, prinzipiell die Tendenz des Patienten zu beseitigen, über konditionierte Reaktionen Disharmonien mit sich und seiner Umwelt zu entwickeln und zu verstärken.
Dies ist dagegen das Ziel der Vipassana – Meditation.
6.2 Vipassana - Meditation
Wenn der Patient in der Lage ist, generell Gleichmut, Entspannung und Ruhe in seinem täglichen Leben aufrecht zu erhalten, wird er eine tiefgreifende Sicherheit und einen Schutz vor schädlichen Konditionierungen aufbauen können. Erst dann wird er reflektorische Reaktionen auf äußere Reize durch adäquate, der aktuellen Situation optimal angepasste Aktionen ersetzen können.
Wie kann man diese stabile Ruhe, Entspannung und Gleichmut entwickeln, die auch im Alltag erhalten bleibt?
Dieser Frage ist bereits vor 2500 Jahren im Rahmen buddhistischer Meditationstechniken nachgegangen worden. Das Ergebnis ist die Vipassana - Meditationstechnik, die ursprünglich aus dem Yoga hervorgegangen ist und seit etwa 2500 Jahren nahezu unverändert überliefert wurde (Lit. 4 – 6 13). Sie hat sich genau der oben beschriebenen Problematik der unangepassten (unheilsamen) Reflexe des Seelenlebens und der Tendenz, solche Reflexe aufzubauen, angenommen.
Zur Erinnerung: Bedürfnisspannungen (Wünsche, Begierden oder Aversionen) sind die Vehikel, über die äußere oder innere Reize reflektorisch und unbewusst Konditionierungen aufbauen können. Dabei verstärken sich oft mit jedem Reflexablauf die Bedürfnisspannungen unkontrolliert, so dass sie letztlich den ursprünglichen Anforderungen an den betreffenden Reflex entgleiten. Es entsteht Stress, nämlich ein Zustand, bei dem Wünsche oder Aversionen nicht mit dem übereinstimmen, was in der aktuellen Situation (innere oder äußere Umgebung) wahrgenommen wird. Diese Diskrepanz zwischen dem Wahrgenommenen und den Erwartungen führt zu Überreaktionen (Stressantworten; buddhistisch: „Leid“).
Die Überprüfung, der Abgleich zwischen den Bedürfnisspannungen und den ihnen potentiell entgegenstehenden Realitäten findet - abstrakt gesprochen - zwischen der Seele und den körperlichen Sinneseindrücken statt, denn die inneren und äußeren Realitäten können nur über die Sinne erfahren werden (man hört und sieht die Wespe; man fühlt die Kühle und schmeckt das Aroma des Vanilleeises etc.).
Genau dieser Prozess wird in der überlieferten und derzeit z.B. von S.N. Goenka gelehrten Form der Vipassana - Technik dem Bewusstsein zugänglich gemacht (Lit. 4 – 6). Dabei wird zunächst die Konzentration auf den Atem gelenkt. Der Atem stellt die Schnittstelle zwischen außen und innen und zwischen Bewusstem und Unbewusstem dar. Die bewusste Beobachtung dieses an sich unbewusst funktionierenden Vorgangs ermöglicht einen Zugang zum Unterbewusstsein. Durch die Atembeobachtung wird eine scharfe und objektive Beobachtungsfähigkeit von Sinneseindrücken und den durch sie ausgelösten Empfindungen trainiert. Anschließend wird im Prozess des „Körperdurchkehrens“ („body sweeping“) die Achtsamkeit auf jedwede Sinnesempfindungen gelenkt. Diese können als angenehm oder unangenehm empfunden werden und so leicht die Basis zu seelischen Konditionierungen bilden.
Während die im Körper gespeicherten Erinnerungen durch diesen „body scan“ wachgerufen werden, wird gleichzeitig strikt auf eine stabile ruhig - konzentrierte und gleichmütige Grundhaltung geachtet. Durch Gleichmütigkeit den aufkommenden Empfindungen gegenüber und das Erleben ihrer Veränderlichkeit und Vergänglichkeit (Schmerz lässt nach) wird eine Relativierung und ein Abklingen der Erlebnisse und Prägungen bewirkt. Es wird sozusagen der Vorgang der körperlichen Überreaktionen auf psychische Ereignisse (z.B. Muskelverkrampfung und Schweißausbruch bei Angst) umgekehrt.
Die Vipassana – Lernenden sollen im täglichen Leben auch bestimmte ethische Grundsätze einhalten, die eine Entwicklung innerer Ruhe fördern. Insoweit ähnelt die Technik den oben erwähnten Dekonditionierungstechniken, die aus der Psychotherapie oder als Entspannungsübungen bekannt sind.
Durch die Vipassana - Technik wird aber nicht nur ein Bewusstsein für und damit letztlich ein Schutz vor Konditionierungen antrainiert, sondern es wird auch der Konditionierungsprozess selbst entschärft. Wie kommt es dazu? Die Antwort scheint unspektakulär:
Durch die Beobachtung und Erfahrung der Flüchtigkeit von Sinnesempfindungen erkennt man, dass eine seelische Anhaftung an, ein Streben nach, eine geistige Abwehr gegen eine angenehme oder unangenehme Empfindung aufgrund ihrer Flüchtigkeit schlicht unangebracht ist.
Anders ausgedrückt: Man kommt durch die Vipassana – Technik zu der tief verwurzelten Überzeugung und Erfahrung, dass es der Seele gut tut, wenn man jeden Moment, in dem Sinneseindrücke mit dem Seelenleben über Empfindungen wechselwirken, neu, gelassen und gleichmütig auf sich zukommen lässt und ihm bewusst und individuell begegnet. Für dieses bewusste Agieren ist die Fähigkeit, die jeweiligen Empfindungen und Wechselwirkungen wahrzunehmen, die Voraussetzung.
Gleichmütig und gelassen bedeutet dabei keinesfalls Gleichgültigkeit oder Transzendenz. Es bedeutet, jeden neuen Moment mit genau dem gleichen Mut anzunehmen und auch wieder loszulassen. Glücksgefühlen, Wünschen, Begierden und Aversionen, also Empfindungen wird man dabei weiterhin begegnen. Man wird sie aber auch wieder loslassen können und ihnen gegenüber bewusst und damit souverän bleiben, so, wie es dem jeweiligen Augenblick angemessen ist und ohne sich in sie hineinzusteigern. Man weiß aus Erfahrung: diese Empfindung ist in exakt dieser Form und Konstellation im nächsten Augenblick Vergangenheit. Ich kann sie nie wieder zurückholen. Ich halte meinen Kopf lieber frei für die nächste Gegenwart.
Viele der Wünsche, Begierden und Aversionen und die mit ihnen verbundenen seelischen Konditionierungen werden dabei mit der Zeit nicht nur nicht weiter aufgebaut, sondern auf das angemessene Maß herunterreguliert. Es handelt sich hierbei nicht um eine reflektorische Dekonditionierung von ursprünglich konditionierten Abläufen, denn die Veränderung wird durch bewusste Erfahrung ermöglicht und eingeleitet.
Der Weg der Vipassana - Meditation ist nicht einfach. Für die meisten Menschen (insbesondere in westlichen Industrienationen) ist er auch ungewohnt und neu. Oft wird die Beschäftigung mit sich selbst in der westlichen Gesellschaft als „Nabelschau“ abgetan oder belächelt. Man übersieht dabei, dass die bei uns verabsolutierte äußere „Realität“ ausschließlich über diesen „Nabel“ wahrgenommen werden kann und somit nur subjektiv existiert. Insofern ist es wert, dieses Fenster zur „Realität“ einmal näher zu studieren und gegebenenfalls auch zu „putzen“.
Erlernen der Vipassana – Technik:
Die Vipassana – Technik nach S.N. Goenka wird weltweit in eigenen Zentren unterrichtet. Die zehntägigen Kurse erfordern ein täglich etwa neunstündiges Sitzen. Für körperlich Geschwächte oder Patienten mit Schmerzen sind diese Kurse deshalb eventuell nicht geeignet. Um solchen Patienten und anderen Menschen, die vor den buddhistischen Begrifflichkeiten zurückschrecken, dennoch den Zugang zu Vipassana zu ermöglichen, hat Jon Kabat-Zinn mit Mitarbeitern vor zirka 25 Jahren das MBSR – Programm („Mindfulness based stress reduction“) entwickelt, das neben anderen Elementen das Achtsamkeitstraining der Vipassana – Technik nutzt. Jon Kabat-Zinn etablierte das MBSR – Programm an der „Stress reduction clinic“ in Worcester, Massachusetts (Lit. 7, 8). Mittlerweile werden MBSR – Kurse in etwa 300 Kliniken und Gesundheitszentren in den USA angeboten.
Auch in Deutschland werden seit einigen Jahren MBSR – Kurse angeboten (Lit. 9).
6.3 Beispiele für physiologische und biochemische Auswirkungen der Meditation:
Die Vorgänge, die sich bei der Konditionierung auf zellulärer Ebene abspielen, sind oben beschrieben worden. Auch für die beobachteten psychischen Veränderungen durch die Meditation findet man physiologische Entsprechungen. Man kann hierfür auf zahlreiche Untersuchungen an Ausübenden der Transzendentalen Meditation zurückgreifen, die - zumindest was die innere Ruhe anbelangt – zu vergleichbaren psychischen Ergebnissen kommen wie die Vipassana – Meditierenden (zitiert nach Lit. 10):
- In einer Studie an 14 Meditierenden und 16 Kontrollpersonen wurde eine raschere physiologische Habituation der GSR (Galvanischen Hautreaktion) auf unregelmäßig dargebotene Stress-Stimuli, geringere Zahl multipler GSR pro Reiz sowie eine geringere Anzahl spontaner Hautwiderstandsschwankungen für Meditierende festgestellt. Dies wurde als Zeichen erhöhter Effizienz neurologischer Informationsverarbeitung und größerer physiologischer Stress - Stabilität gedeutet.
- Streß setzt die Hormone CRF (corticotrophin releasing factor) und AVP (arginine vasopressin) aus spezialisierten Nervenzellen tief im Gehirn frei. Diese Hormone veranlassen die Freisetzung von Stresshormonen (Glucocorticoide), die den Körper auf Verteidigung vorbereiten. An Ratten wurde herausgefunden, dass bei Wiederholungen eines „stressigen“ Reizes diese Zellen ihre Produktion von dem stärker wirkenden CRF auf das weniger aktivierend wirkende AVP umstellen und so die Reaktion auf Streß allmählich abnimmt (Habituation). Analog hierzu kann der Anstieg auf das im Schnitt Fünffache des Ursprungswertes der AVP-Sekretion während der Praxis Langzeitmeditierender als abgeschwächte Reaktion auf Stress interpretiert werden.
- Es wurden verschiedene hormonelle Änderungen wie reduzierte Cortisolspiegel in Plasma und Urin,verminderte TSH-Werte sowie erhöhte Dehydroepiandrosteron-Sulfat-Werte (DHEA, DHS) vor allem bei Langzeitmeditierenden gemessen. Sie werden von den Autoren als größere physiologische Stress-Stabilität (Cortisol- und TSH-Reduktion) und Verlangsamung des altersbezogenen Absinkens der DHEA/DHS-Sekretion in der Nebennierenrinde interpretiert, da die DHS-Werte etwa denen 5-10 Jahre jüngerer Nicht-Meditierender entsprachen.
In einem Übersichtsartikel zum Thema Meditation (Lit. 11) werden zahlreiche Studien zu physiologischen Effekten der Meditation aufgeführt. Er fasst die Ergebnisse so zusammen, dass bei Meditationsanfängern die physiologischen Reaktionen denen bei körperlicher Entspannung entsprechen. Bei erfahrenen Meditierenden (nach 12 – 18 Monaten) ergeben sich anhaltendere hormonelle und Stoffwechselveränderungen.
Die positiven Auswirkungen von Achtsamkeitsmeditation auf die Gesundheit sind auch an deutschen Patienten mit chronischen körperlichen, psychischen oder psychosomatischen Beschwerden nachgewiesen worden (Lit. 12). Die Effekte wurden mit standardisierten Instrumenten bestimmt. Es fanden sich mittlere bis große Effekte bei der Reduktion von psychischem Stress und eine Steigerung des Wohlbefindens und der Lebensqualität. Außerdem erwies sich die körperorientierte Herangehensweise als positive Ergänzung zu Psychotherapien.
7. Können Worte töten?
Wir sind nun so weit, dass wir antworten und zusammenfassen können:
Worte bewirken zunächst nichts weiter als Sinneseindrücke in einem Organ (Ohr) des Patienten. Je nach dem aber, wie der Patient im Rahmen seiner Krankheit und seiner Lebensgeschichte konditioniert wurde, werden diese Worte im Rahmen unwillkürlicher Reflexe (Konditionierungen) verarbeitet und empfunden und führen zu weiteren geistigen, seelischen und körperlichen Reaktionen, im schlimmsten Fall auch zum Tod. Bei manchen Patienten mögen sehr starke Worte dazu notwendig sein, bei adäquat vorkonditionierten Patienten reichen bereits unscheinbare Gesten aus.
Den effektivsten und umfassendsten Schutz vor seiner Umwelt und ihrem seelischen Einfluss kann letztlich nur der Patient selbst aufbauen. Er kann zunächst versuchen, sich keinen unheilsamen äußeren Reizen auszusetzen. Je mehr es ihm darüber hinaus gelingt, a) seine seelisch unheilsamen Konditionierungen abzubauen und aufzulösen und b) auch die zugrundeliegenden Mechanismen ihrer Entstehung zu erkennen und bewusst zu erfahren, desto souveräner, gleichmütiger und gelassener wird er gegenüber Worten bzw. Umwelteinflüssen sein. Dadurch kann er auch seinen Krankheitsverlauf günstig beeinflussen und seelisch heil werden.
Die Aufgabe von Angehörigen, Freunden, Ärzten und Therapeuten sollte sein, diese Arbeit zu flankieren und zu begünstigen. Langfristig kann eine solche Hilfe zur Selbsthilfe sogar besser nützen als eigene Anpassungen an die Bedürfnisse des Patienten.
Der aufgezeigte Weg kann prinzipiell von jedem Menschen – gesund oder krank - und aus jeder Lebenslage heraus angetreten werden. Auch kleine Schritte in diese Richtung werden entsprechende Erfolge erbringen, wobei die Meditierenden anfangs oftmals nicht geübt genug sind, diese Erfolge zu erkennen.
Vielleicht wird dieser Beitrag dazu motivieren, diesen Weg zu beginnen.
Literatur:
- „Krebsrisiken - Überlebenschancen; Wie Körper, Seele und soziale Umwelt zusammenwirken“, Helm Sierlin, Ronald Grossarth-Maticek. Carl-Auer Systeme Verlag. 2. Auflage 2000. ISBN 3-89670-099-5
- „Autonomietraining - Gesundheit und Problemlösung durch Anregung der Selbstregulation“, Ronald Grossarth-Maticek, De Gruyter 2000, ISBN: 3-11-016881-2
- „Systemische Epidemiologie und präventive Verhaltensmedizin chronischer Erkrankungen - Strategien zur Aufrechterhaltung der Gesundheit“, Ronald Grossarth-Maticek, de Gruyter 1999, ISBN: 3-11-016518-X.
- „Die Kunst des Lebens; Vipassana - Meditation nach S.N. Goenka“, William Hart, Spirit Fischer Verlag. 4. Auflage 1999, ISBN: 3-596-12991-5.
- „Vipassana - Meditation; Die Praxis der Freiheit. Buddhistische Achtsamkeitsmeditation als Weg zum inneren Frieden“, Arbor Verlag Freiamt im Schwarzwald (1999) ISBN 3-924195-46-3
- Internet: www.dhamma.org
- Internet: www.UMassmed.edu/cfm
- „Alles in Buddha“, Hans Gruber, in: Psychologie heute, Juli 2001, S. 34 ff.
- Internet: www.arbor-verlag.de/mbsr_adressliste.html, www.lehrhaupt.com
- Internet:
www.tm-independent.de/Transzendentale_Meditation/Forschung/Medizin/tm_und_medizin.html - „Meditation: concepts, effects and uses in therapy“, Alberto Perez de Albeniz, Int. Journal of Psychotherapy, vol.5, no.1, 2000, pp. 49-58
- „Does Mindfulness Meditation Contribute to Health? Outcome Evaluation of a German Sample“, Marcus Majumdar, Paul Grossmann, Barbara Dietz-Waschkowski, Susanne Kersig, Harald Walach, Journal of Alternative and Complementary Medicine, vol.8, no.6, 2002, pp. 719-730
- The First Discourse of the Buddha, Rewata Dhamma, Foreword: Ajahn Sumedho, Wisdom publications, ISBN:0-86171-104-1
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Thorsten Ahlert
Ich arbeite seit nunmehr 20 Jahren im Gebiet der Krebstherapie und Krebsforschung. Dabei habe ich viele Krebspatienten teilweise mit neuen und experimentellen Methoden behandelt (Immuntherapien). Ich war auch immer an den psychologischen Implikationen der Krebserkrankung interessiert und bin diese mit meinen Patienten angegangen.
Ich habe auch an Vipassana-Meditationskursen und Retreats teilgenommen. Seit 26 Jahren praktiziere ich täglich Vipassana-Meditation für ca. 1,5 - 2,5 Stunden.
Jutta Beier
Vor einigen Jahren lernte ich die Vipassana-Meditation kennen und habe an mehreren Retreats teilgenommen. Die Vipassana-Meditationstechnik macht sich die Komplementarität von Geist/Seele und Körper zu Nutze. Dies weckte mein besonderes Interesse, da ich mich als Physikerin u.a. mit dem Verhältnis von Geist und Materie beschäftige.
© 2007 - Th. Ahlert, J. Beier