Diagnose Krebs: Können Worte töten?
Th. Ahlert, J. Beier

Vorhergehendes Kapitel: 6. Dekonditionierung und Vipassana - Meditation

6.1 Konditionierung und Dekonditionierung

Unter Konditionierung versteht man in der Psychologie das Erlernen von Reiz – Reaktions – Mustern: auf einen bestimmten Reiz erfolgt im Körper eine bestimmte Reaktion. Man unterscheidet zwei Typen der Konditionierung:

Die klassische Form des Lernens via Konditionierung wurde von I. Pawlow beschrieben. Er beobachtete, dass Versuchshunde nach einer Lernphase, in der ein Glockenton direkt bei der Fütterung ertönte, bereits nach dem alleinigen Glockenton Speichel absonderten, auch wenn sie das Futter (noch) nicht sehen konnten. Er deutete diese Beobachtung so, dass durch das wiederholte zeitlich unmittelbar aufeinanderfolgende Erscheinen des Glockentons (neutraler Reiz) und des Futters (unkonditionierter Reiz mit reflexartiger Reaktion) eine Verbindung zwischen beiden hergestellt wurde. Der vorher neutrale Reiz wurde dadurch zu einem konditionierten Reiz. Die konditionierte Reaktion (Speichelproduktion) wird nun sowohl durch den konditionierten Reiz (Glockenton) als auch durch den unkonditionierten Reiz (Futter) ausgelöst.

Auch das Erlernen von komplexeren Reaktionsweisen als den oben beschriebenen wird als Konditionierung bezeichnet („operante Konditionierung“). Damit der Konditionierungsmechanismus überhaupt einen Ansatzpunkt hat und greifen kann, müssen Bedürfnisspannungen (Begierden oder Aversionen) und angeborene unbedingte Reflexe vorhanden sein, die bei der Konditionierung angesprochen und befriedigt werden. Mit Hilfe sogenannter Verstärker (positive Verstärkung oder Bestrafung) wird bei der Konditionierung dafür gesorgt, dass bestimmte Reaktionen und Verhaltensweisen begünstigt oder erschwert werden. Was sich als Verstärker eignet, hängt von der Person ab, bei der die Verhaltensweise verstärkt werden soll (z.B. Angst vor Schmerzen; Glücksversprechen).

Abläufe im Gehirn bei der Konditionierung:

Die Neuroendokrinologie beschreibt, welche biochemischen Prozesse bei der Konditionierung ablaufen: die Befriedigung der Bedürfnisspannung führt über eine vorübergehende Hormonausschüttung zu Veränderungen an Nervenzellen: wenn ein Axon A wiederholt oder ständig an eine Zelle B gefeuert hat, so erfolgen Veränderungen in beiden Zellen (Axon A kann wachsen, Zelle B kann mehr Dendriten und Synapsen entwickeln, oder in beiden kann eine chemische Veränderung stattfinden). Die Fähigkeit der Zelle A, die Zelle B zu erregen, steigt. Wenn also ein Axon einmal an eine Zelle gefeuert hat, wird es in Zukunft diese Zelle noch besser stimulieren können – der Reflex ist fixiert. Wenn gleichzeitig mit A auch noch C an B feuert, könnte durch die Kombination sogar ein Aktionspotential ausgelöst werden.

Auf der Empfindungsebene beschrieben, entspricht die Hormonausschüttung einem angenehmen und daher „suchterzeugenden“ Erleben. Die Veränderungen an den Nervenzellen entsprechen einem (unbewussten) Gedächtnis und verstärken das konditionierte Verhalten durch die wiederholt hervorgerufene Empfindungsinduktion. Es bildet sich eine reflektorische, unbewusste Reaktions- und Empfindungsweise, die sich dem freien Willen der konditionierten Person entzieht.

Durch fortschreitende Erfahrung mit immer gleichen Reizen können nun zwei Effekte auftreten, die die konditionierten Reaktionen abschwächen oder verstärken: „Habituation“ (Gewöhnung = Abnahme der Reaktion auf einen Stimulus, der wiederholt dargeboten wird und von keiner Veränderung von anderen Stimuli begleitet wird) oder „Sensitisation“ (nach einem starken Stimulus reagiert ein Organismus auf einen nachfolgenden schwächeren Stimulus stärker, wird gleichsam „überempfindlich“).

Durch Untersuchungen an den Neuronen von Seeschnecken (Aplysia) wurde herausgefunden, dass Habituation eine Abnahme der Transmitterausschüttung der präsynaptischen Zelle bedeutet. Bei der Sensitisation handelt es sich um eine Zunahme der Transmitterausschüttung: durch den starken Reiz erfolgt eine Serotoninausschüttung in den synaptischen Spalt, wodurch die Aktionspotentiale und Transmitterausschüttungen zeitlich ausgeweitet werden. Es wird quasi verhindert, dass eine Nervenzelle aufhört zu feuern.

Auch die Objekte der Konditionierung - die Bedürfnisspannungen (Wünsche oder Aversionen) selbst - sind keine absoluten Konstanten, sondern können wiederum durch Lernvorgänge gebahnt („konditioniert“) und überhöht oder abgeschwächt werden. Beispielsweise können selbst angeborene Bedürfnisse wie Hunger und Durst starken Veränderungen und Anpassungen durch unbewusste Prozesse unterworfen werden. Auch diese Prozesse kann man mit den Konzepten der Sensitisation und Habituation beschreiben.

Beispiele:

Einige Beispiele mögen die obigen theoretischen Erläuterungen veranschaulichen:

Sensitisation bei Aversion:

  1. auslösender Reiz (ich sehe eine Wespe und höre ihr Summen)df
  2. weckt Aversion (ich mag diese Wespe nicht besonders, ich hab gehört, Wespen können stechen)
  3. Realisierung (die Wespe sticht, es tut ziemlich weh)
  4. Hormonausschüttung (Stresshormone wie Adrenalin werden ausgeschüttet, ich bekomme Angst, mein Blutdruck steigt, ich schlage die Wespe panisch von mir ab und fliehe)
  5. Beendigung der Hormonausschüttung (die Wespe ist weg, der Schmerz lässt nach)
  6. Konditionierung ist entstanden (hier Aversion: ich muss in Zukunft aufpassen, Wespen sind äußerst unangenehme und gefährliche Tiere)
  7. konditionierter Reiz (ich höre das Summen einer Wespe)
  8. konditionierte Reaktion (ich bekomme Angst, mein Blutdruck steigt, auch ohne dass die Wespe sticht)

Sensitisation bei Begierde:

  1. auslösender Reiz (z.B. Werbung im Fernsehen für ABC-Vanilleeis)
  2. weckt Begierde (oh, ein Vanilleeis wäre lecker! Es schmeckt nicht nur, ich werde - genau wie in der Werbung - damit auch ein glücklicher Mensch, werde Spaß haben!)
  3. Realisierung (ich kaufe mir das Vanilleeis und esse es)
  4. Hormonausschüttung (Endorphinausschüttung: ah, das schmeckt aber gut, ich fühle mich wohl)
  5. Beendigung der Hormonausschüttung (oh das Vanilleeis ist alle; wie schade, jetzt ist der Spaß vorbei)
  6. Konditionierung ist entstanden (hier Begierde: das muss ich mir merken, bei der nächsten Gelegenheit schlage ich wieder zu)
  7. abgeschwächter konditionierter Reiz (ich sehe im Supermarkt die Eispackung ohne Werbefilm)
  8. gleich starke konditionierte Reaktion aufgrund Sensitisation (oh ja, ein ABC-Vanilleeis, das wäre jetzt das Richtige, das hat mir schon damals so gut geschmeckt)

Unser Leben besteht zu einem viel größeren Teil aus reflektorischen, konditionierten Handlungen, als wir uns normaler Weise klar machen. Reflexe haben gegenüber bedachten und bewußten Handlungen den großen Vorteil, dass sie unser Gehirn entlasten und mit sehr geringer Vorlaufzeit und sehr zügig ablaufen (schnelle Flucht vor der Wespe; zeitsparendes Zugreifen im Supermarkt). Sie haben aber den Nachteil, dass sie kaum einen Spielraum für Anpassungen an die aktuelle Situation lassen. Dies ist besonders dann problematisch, wenn Reflexe auch unser Seelenleben bestimmen. Es gibt nämlich - im Gegensatz zu Handlungen, die körperliches Überleben sichern – keinen vernünftigen Grund, warum auch das Seelenleben in unbewußten Reflexen und konditionierten Zwängen eingemauert werden sollte.

Dekonditionierung:

Aus den obigen Abschnitten geht hervor, dass Konditionierungen modulierbar sind. Werden sie rückgängig gemacht, spricht man von Dekonditionierung (Extinktion): ein erlerntes Verhalten (psychisches oder physisches Reaktionsmuster) kann verlernt werden, wenn der konditionierte Reiz wiederholt ohne den ursprünglich notwendigen unbedingten Reiz dargeboten wird.

Am Beispiel des Hundes würde dies heißen, dass das Glockensignal wiederholt ohne Futtergabe ertönt. Nach einigen Wiederholungen bleibt der Speichelfluss aus. Ebenso kann eine bedingte Aversion abgebaut werden, wenn auf den konditionierten Reiz wiederholt keine unangenehme Erfahrung folgt.

Allgemein gesprochen, kann der Kreislauf der Konditionierungen durchbrochen werden, wenn die kurze Glücks- oder Aversionsempfindung bzw. die verursachende Hormonausschüttung, die den Reflex verstärken, vermieden werden.

In der medikamentösen Therapie psychischer Probleme ist diese Vermeidung kurzfristig durch Psychopharmaka, z.B. Beruhigungsmittel wie Diazepam (Valium) erreichbar. Die pharmazeutische Wirkung lässt allerdings mit der Zeit nach, so dass allmählich höhere Dosierungen für gleiche Effekte eingesetzt werden müssen. Der pharmakologische Weg verspricht daher nur eine kurzfristige Lösung bei akuten Krisen. Es mag sein, dass beim Patienten zunächst einige Konditionierungen aufgehoben oder abschwächt werden. Er ist aber nach Abklingen der Medikamentenwirkung noch mehr gefährdet, weil bei gleichen Reizen stärkere Hormonausschüttungen erfolgen als vor der Medikamentengabe und damit Konditionierungen beschleunigt wieder auftreten können.

Eine effektivere Methode der Dekonditionierung hat die in Kapitel 4 erwähnte Verhaltenstherapie entwickelt. Eine spezielle Form der Verhaltenstherapie, die Konfrontationstherapie, benutzt dabei das oben besprochene Phänomen der Habituation. Die Methode basiert darauf, dass der Patient ruhig, gleichmütig und entspannt bleibt, während sich der konditionierte Reiz dargeboten wird (das Summen der Wespe wird z.B. im Rahmen einer entspannten Atmosphäre so lange angehört, bis es keine Angstreaktion mehr auslöst). Gleichmut und Entspannung ist mit einer natürlichen Reduktion von Hormonausschüttungen verbunden und erreichen einen ähnlichen Effekt wie die oben erwähnten Medikamente ohne deren schädliche Nebenwirkungen. Diese Methode wird insbesondere bei therapiebedürftigen konditionierten Aversionen und Angstreflexen eingesetzt. Sie führt z.B. zu einem 80-prozentigem Heilungserfolg bei Patienten mit starker Zahnarztangst (Dentalphobie). Sie kann aber auch bei starken Begierden und Wünschen erfolgreich sein.

In diesem Rahmen müssen auch Methoden wie das Autogene Training und bestimmte Visualisierungstechniken erwähnt werden, die die körperliche und geistige Entspannung mit mentalen Inhalten koppeln.

Diese Techniken fokussieren sich auf die Bearbeitung eines oder weniger Hauptprobleme und haben nicht die Absicht, prinzipiell die Tendenz des Patienten zu beseitigen, über konditionierte Reaktionen Disharmonien mit sich und seiner Umwelt zu entwickeln und zu verstärken.

Dies ist dagegen das Ziel der Vipassana – Meditation.

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