Diagnose Krebs: Können Worte töten?
Th. Ahlert, J. Beier

Vorhergehendes Kapitel: 6.1 Konditionierung und Dekonditionierung

6.2 Vipassana - Meditation

Wenn der Patient in der Lage ist, generell Gleichmut, Entspannung und Ruhe in seinem täglichen Leben aufrecht zu erhalten, wird er eine tiefgreifende Sicherheit und einen Schutz vor schädlichen Konditionierungen aufbauen können. Erst dann wird er reflektorische Reaktionen auf äußere Reize durch adäquate, der aktuellen Situation optimal angepasste Aktionen ersetzen können.

Wie kann man diese stabile Ruhe, Entspannung und Gleichmut entwickeln, die auch im Alltag erhalten bleibt?

Dieser Frage ist bereits vor 2500 Jahren im Rahmen buddhistischer Meditationstechniken nachgegangen worden. Das Ergebnis ist die Vipassana - Meditationstechnik, die ursprünglich aus dem Yoga hervorgegangen ist und seit etwa 2500 Jahren nahezu unverändert überliefert wurde (Lit. 4 – 6, 13). Sie hat sich genau der oben beschriebenen Problematik der unangepassten (unheilsamen) Reflexe des Seelenlebens und der Tendenz, solche Reflexe aufzubauen, angenommen.

Zur Erinnerung: Bedürfnisspannungen (Wünsche, Begierden oder Aversionen) sind die Vehikel, über die äußere oder innere Reize reflektorisch und unbewusst Konditionierungen aufbauen können. Dabei verstärken sich oft mit jedem Reflexablauf die Bedürfnisspannungen unkontrolliert, so dass sie letztlich den ursprünglichen Anforderungen an den betreffenden Reflex entgleiten. Es entsteht Stress, nämlich ein Zustand, bei dem Wünsche oder Aversionen nicht mit dem übereinstimmen, was in der aktuellen Situation (innere oder äußere Umgebung) wahrgenommen wird. Diese Diskrepanz zwischen dem Wahrgenommenen und den Erwartungen führt zu Überreaktionen (Stressantworten; buddhistisch: „Leid“).

Die Überprüfung, der Abgleich zwischen den Bedürfnisspannungen und den ihnen potentiell entgegenstehenden Realitäten findet - abstrakt gesprochen - zwischen der Seele und den körperlichen Sinneseindrücken statt, denn die inneren und äußeren Realitäten können nur über die Sinne erfahren werden (man hört und sieht die Wespe; man fühlt die Kühle und schmeckt das Aroma des Vanilleeises etc.).

Genau dieser Prozess wird in der überlieferten und derzeit z.B. von S.N. Goenka gelehrten Form der Vipassana - Technik dem Bewusstsein zugänglich gemacht (Lit. 4 – 6). Dabei wird zunächst die Konzentration auf den Atem gelenkt. Der Atem stellt die Schnittstelle zwischen außen und innen und zwischen Bewusstem und Unbewusstem dar. Die bewusste Beobachtung dieses an sich unbewusst funktionierenden Vorgangs ermöglicht einen Zugang zum Unterbewusstsein. Durch die Atembeobachtung wird eine scharfe und objektive Beobachtungsfähigkeit von Sinneseindrücken und den durch sie ausgelösten Empfindungen trainiert. Anschließend wird im Prozess des „Körperdurchkehrens“ („body sweeping“) die Achtsamkeit auf jedwede Sinnesempfindungen gelenkt. Diese können als angenehm oder unangenehm empfunden werden und so leicht die Basis zu seelischen Konditionierungen bilden.

Während die im Körper gespeicherten Erinnerungen durch diesen „body scan“ wachgerufen werden, wird gleichzeitig strikt auf eine stabile ruhig - konzentrierte und gleichmütige Grundhaltung geachtet. Durch Gleichmütigkeit den aufkommenden Empfindungen gegenüber und das Erleben ihrer Veränderlichkeit und Vergänglichkeit (Schmerz lässt nach) wird eine Relativierung und ein Abklingen der Erlebnisse und Prägungen bewirkt. Es wird sozusagen der Vorgang der körperlichen Überreaktionen auf psychische Ereignisse (z.B. Muskelverkrampfung und Schweißausbruch bei Angst) umgekehrt.

Die Vipassana – Lernenden sollen im täglichen Leben auch bestimmte ethische Grundsätze einhalten, die eine Entwicklung innerer Ruhe fördern. Insoweit ähnelt die Technik den oben erwähnten Dekonditionierungstechniken, die aus der Psychotherapie oder als Entspannungsübungen bekannt sind.

Durch die Vipassana - Technik wird aber nicht nur ein Bewusstsein für und damit letztlich ein Schutz vor Konditionierungen antrainiert, sondern es wird auch der Konditionierungsprozess selbst entschärft. Wie kommt es dazu? Die Antwort scheint unspektakulär:

Durch die Beobachtung und Erfahrung der Flüchtigkeit von Sinnesempfindungen erkennt man, dass eine seelische Anhaftung an, ein Streben nach, eine geistige Abwehr gegen eine angenehme oder unangenehme Empfindung aufgrund ihrer Flüchtigkeit schlicht unangebracht ist.

Anders ausgedrückt: Man kommt durch die Vipassana – Technik zu der tief verwurzelten Überzeugung und Erfahrung, dass es der Seele gut tut, wenn man jeden Moment, in dem Sinneseindrücke mit dem Seelenleben über Empfindungen wechselwirken, neu, gelassen und gleichmütig auf sich zukommen lässt und ihm bewusst und individuell begegnet. Für dieses bewusste Agieren ist die Fähigkeit, die jeweiligen Empfindungen und Wechselwirkungen wahrzunehmen, die Voraussetzung.

Gleichmütig und gelassen bedeutet dabei keinesfalls Gleichgültigkeit oder Transzendenz. Es bedeutet, jeden neuen Moment mit genau dem gleichen Mut anzunehmen und auch wieder loszulassen. Glücksgefühlen, Wünschen, Begierden und Aversionen, also Empfindungen wird man dabei weiterhin begegnen. Man wird sie aber auch wieder loslassen können und ihnen gegenüber bewusst und damit souverän bleiben, so, wie es dem jeweiligen Augenblick angemessen ist und ohne sich in sie hineinzusteigern. Man weiß aus Erfahrung: diese Empfindung ist in exakt dieser Form und Konstellation im nächsten Augenblick Vergangenheit. Ich kann sie nie wieder zurückholen. Ich halte meinen Kopf lieber frei für die nächste Gegenwart.

Viele der Wünsche, Begierden und Aversionen und die mit ihnen verbundenen seelischen Konditionierungen werden dabei mit der Zeit nicht nur nicht weiter aufgebaut, sondern auf das angemessene Maß herunterreguliert. Es handelt sich hierbei nicht um eine reflektorische Dekonditionierung von ursprünglich konditionierten Abläufen, denn die Veränderung wird durch bewusste Erfahrung ermöglicht und eingeleitet.

Der Weg der Vipassana - Meditation ist nicht einfach. Für die meisten Menschen (insbesondere in westlichen Industrienationen) ist er auch ungewohnt und neu. Oft wird die Beschäftigung mit sich selbst in der westlichen Gesellschaft als „Nabelschau“ abgetan oder belächelt. Man übersieht dabei, dass die bei uns verabsolutierte äußere „Realität“ ausschließlich über diesen „Nabel“ wahrgenommen werden kann und somit nur subjektiv existiert. Insofern ist es wert, dieses Fenster zur „Realität“ einmal näher zu studieren und gegebenenfalls auch zu „putzen“.

Erlernen der Vipassana – Technik:

Die Vipassana – Technik nach S.N. Goenka wird weltweit in eigenen Zentren unterrichtet. Die zehntägigen Kurse erfordern ein täglich etwa neunstündiges Sitzen. Für körperlich Geschwächte oder Patienten mit Schmerzen sind diese Kurse deshalb eventuell nicht geeignet. Um solchen Patienten und anderen Menschen, die vor den buddhistischen Begrifflichkeiten zurückschrecken, dennoch den Zugang zu Vipassana zu ermöglichen, hat Jon Kabat-Zinn mit Mitarbeitern vor zirka 25 Jahren das MBSR – Programm („Mindfulness based stress reduction“) entwickelt, das neben anderen Elementen das Achtsamkeitstraining der Vipassana – Technik nutzt. Jon Kabat-Zinn etablierte das MBSR – Programm an der „Stress reduction clinic“ in Worcester, Massachusetts (Lit. 7, 8). Mittlerweile werden MBSR – Kurse in etwa 300 Kliniken und Gesundheitszentren in den USA angeboten.

Auch in Deutschland werden seit einigen Jahren MBSR – Kurse angeboten (Lit. 9).

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